Die Eigenschaften metallischer Werkstoffe hängen wesentlich von ihren kristallinen Mikrostrukturen ab, da diese maßgeblichen Einfluss auf die Festigkeit und das Verformungsverhalten haben.
Ein Beispiel hierfür sind Formgedächtnislegierungen, die ihre Form aufgrund von temperaturbedingten Änderungen in ihrer inneren Kristallstruktur verändern. „Eine geeignete Mikrostruktur in diesen speziellen Werkstoffen zu schaffen ist eine große technische Herausforderung. Das im Detail mithilfe von Röntgenanalysen zu überprüfen, ist besonders aufwendig“, so Prof. Dr.-Ing. Thomas Niendorf, Leiter des Fachgebiets Metallische Werkstoffe.
Zu diesem Zweck greifen Forscher häufig auf Röntgendiffraktometrie-Methoden zurück, bei denen ein Detektor die gebeugten Röntgenstrahlen aufnimmt und eine Software ihre Intensität in Form einer sogenannten Polfigur darstellt. Um diese Polfigur zu erhalten, muss die Werkstoffprobe gedreht und gekippt werden, bis aus den Messdaten die gewünschte Polfigur generiert werden kann. Anhand dieser Polfigur ist es möglich, rechnerisch die Anordnung und Ausrichtung der Kristalle im Metall zu bestimmen. Es ist zu beachten, dass diese Messreihen häufig mehrere Tage in Anspruch nehmen können. „Mit unserem speziell entwickelten Algorithmus sind wir drei Mal schneller“, berichtet David Meier, Informationswissenschaftler vom Helmholtz-Zentrum Berlin und dem Fachgebiet Intelligente Eingebettete Systeme der Universität Kassel.
Mithilfe von maschinellem Lernen wurde der Algorithmus trainiert, sodass er aus einem begrenzten Ausschnitt der realen Messdaten, der nur über wenige Stunden erfasst wurde, eine vollständige Rekonstruktion der Polfigur erstellen kann, die sich nur minimal vom Original unterscheidet. Die Wissenschaftler erstellen Polfiguren von zufälligen Anordnungen von Körnern im Metall mithilfe einer Simulation. Anhand dieser simulierten Abbildungen wird eine speziell angepasste Deep-Learning-Architektur trainiert, um aus einem gegebenen Ausschnitt die gesamte Polfigur zu generieren. Dieses "Rekonstruktionsnetzwerk" ist in der Lage, fehlende Bereiche in einer real gemessenen Polfigur auf Grundlage eines kleinen Ausschnitts zu rekonstruieren.
Der Vergleich zwischen der Rekonstruktion und den realen, vollständigen Messergebnissen der Probe zeigt, dass das Rekonstruktionsnetzwerk in diesem speziellen Beispiel die Probe mit ausreichender Genauigkeit analysieren kann. Um jedoch statistisch nachzuweisen, dass diese entwickelte Methode in anderen realen Szenarien funktioniert, bedarf es weiterer Studien, bei denen verschiedene Proben aus unterschiedlichen Materialien verwendet werden. Es erscheint jedoch vielversprechend, dass die Kombination von moderner Messtechnik und künstlicher Intelligenz in Zukunft die Forschung und Entwicklung von leistungsstarken und langlebigen Werkstoffen unterstützen wird. Die Projektergebnisse wurden veröffentlicht in der Zeitschrift: Scientific Reports: 13, 5410 (2023): doi.org/10.1038/s41598-023-31580-1.